Benutzeranmeldung

Sie verlassen die TRILOGOS-Website Deutsch. Möchten Sie auf die englische Website wechseln?

Von Kratern, Abgründen und Joggern

von Muriel Simon / Herbst 2008

„Woher nehmen Sie die Kraft?“, werde ich oft gefragt, wenn ich aus meinen Büchern lese und dem Leben erzähle.

„Ich weiß nicht, sie ist einfach da“, antworte ich dann, und es ist keine Koketterie, wenn ich ein wenig verschämt die Schultern zucke. Woher nimmt ein Löwenzahn die Kraft, durch den Asphalt zu brechen?

Vor einigen Tagen ging ich in München im Englischen Garten spazieren. Abendnebel lag über den Wiesen und überzog das satte Gras mit einem Schleier. Vielleicht war es die Schwere um mich herum, die sich auf mich legte; ich fragte mich unwillkürlich, warum mein Leben so verläuft, wie es das nun mal tut… warum ich immer wieder krank geworden bin, immer wieder lieb gewonnene Menschen an den Tod verliere, immer wieder an Abgründen schwebe.

Ich suchte mir eine Bank, sog die nebelfeuchte Luft ein und schloss die Augen. In meiner Imagination entstand ein Bild. Ich sah mich um den Rand eines Kraters laufen. Neugierig, wie ich bin, beugte ich mich vor, denn ich wollte in das tiefe dunkle Loch schauen, das sich in der Mitte des Kraters auftat. Ich konnte jedoch nichts erkennen, es war zu schwarz. Ich warf Steinchen hinein und hörte nichts, und ich rief, ich schrie, doch es kam kein Echo. Endlich begriff ich: Es war kein Krater, der sich da vor meinem geistigen Auge auftat, sondern ein schwarzes Loch… Sinnbild für einen Zustand der Seele, den wir wohl alle kennen und oft genug fliehen.

Während ich da stand und das schwarze Loch besah, spürte ich seinen Sog. Statt zurückzuweichen auf sicheres Terrain, fragte ich mich, was passieren würde, sollte ich mich hineinstürzen. Immerhin stand ich gefährlich nah beim Abgrund.

Was geschieht mit Materie, die in ein schwarzes Loch gerät?

Knirschende Schritte auf Kies, ein keuchendes Schwatzen holten mich zurück in die Gegenwart. Ein Joggerpärchen, das meinen Weg kreuzte… 

Ich kann nicht verloren gehen, schoss es mir durch den Kopf. Genauso wenig, wie Materie verloren geht. Da begriff ich das Bild in seiner Fülle. Es sprach von Unsterblichkeit.

Nicht immer birgt der Krater ein schwarzes Loch, um in Bildern zu sprechen. Manchmal lodert dort auch ein Feuer, dem wir opfern können, was uns beschwert. Wir spüren die Hitze, den Schmerz, doch wenn wir Geduld haben, erleben wir, wie das Feuer zu Asche wird und sich Phönix daraus erhebt. Die „Sehnsucht des Lebens nach sich selber“, um mit den Worten Khalil Gibrans zu sprechen, erfüllt sich in jedem Moment, seit die Götter ihren ersten Atemzug taten, sprich: die Zeit begann. Und solange wir existieren in dem Mysterium der Zeit, werden Sonnen und wir geboren, sterben und werden wieder geboren. Aus Feuer, aus einer Idee, einer Vision und einem Traum. 
 

© TRILOGOS STIFTUNG 2012. Alle Rechte vorbehalten | Letzte Aktualisierung 16.05.2024